DER DACHS
Prosa
Der Mond steht am Himmel, und ein Mann bringt den Müll raus. Vorsichtig setzt er einen Schritt vor den anderen. Der Mann ist alt. Das Gehen fällt ihm schwer. Behutsam legt er die Hand auf das Geländer. Vier Stufen von der Veranda zur Einfahrt. Als junger Mann hätte er zwei Stufen auf einmal genommen, aber er ist kein junger Mann mehr. Schlaff hängt die Haut vom Arm, und das rechte Knie! Er tastet sich in die Dunkelheit. Sein Atem ist flach, jede Bewegung verrät die Angst vor dem Fall. Leise tapert er vor sich hin. Trägt helle Hausschuhe und einen Überzug. Will er seine Nachbarn schonen? Jetzt erreicht der alte Mann die letzte Stufe. Blickt auf. Die Nacht ruht kahl im Vorort einer größeren Stadt. Morgens fahren die Kinder zur Schule und die Eltern zur Arbeit, alles schläft. Tumult ist nicht vorgesehen, Ruhe die oberste Bürgerpflicht. Nachts schlafen die Häuser. Sacht arbeitet er sich vor. In der einen Hand den schwarzen Müllsack, in der anderen ein Halt, ein Vorsprung, ein Stück der Mauer, ein Pfosten. Im Schuppen lagert das Holz für den Kamin, unter einem Vordach stehen die Tonnen. Dort will er hin. Das Haus steht abseits der Straße, ist etwas nach hinten versetzt, der Weg ist lang, zumindest für ihn, dessen Knochen alt sind und die Muskeln müde. Weiter, immer weiter. Was hat ihn zu der nächtlichen Aktion bewogen? Am nächsten Tag wäre sicherlich die Putzfrau gekommen oder die Schwester oder der Sohn, um die beschwerliche Aufgabe zu übernehmen. Will er ihnen sein Alter ersparen? Seine Miene ist ruhig und unbewegt. Er stöhnt nicht, er kommentiert nicht. Geht einfach seinen Gang. Passiert die kleine Wiese vor dem Haus, die Pflastersteine weisen den Weg zur Straße. Am Rand des Grundstücks steht der Schuppen, davor die überdachten Tonnen. Lange, schwere Atemzüge im wiegenden Rhythmus seiner Schritte. Endlich erreicht er das Vordach. Ein Schwung des Arms, und der Sack verschwindet in der Tonne. Geschafft, aber noch ist es nicht vorbei. Der Gang will zurück getan sein. Er hält kurz inne, blickt zum Mond. Erinnert sich, oder auch nicht. Versucht, den Atem ruhig zu halten. Die Anstrengung erschreckt ihn. Er hat seinen Körper in Aufruhr versetzt durch den kleinen Gang. Warte nur, warte nur. Er senkt den Blick. Auf der anderen Straßenseite ein roter Toyota. Den hat er vorher noch nie gesehen. Wahrscheinlich ein Bekannter eines Nachbarn zu Besuch. Er schaut die Straße hinunter. Links die Häuser, rechts der Friedhof, dahinter zwei Geschäfte, darüber Wohnungen. Er blinzelt. Ein Schatten bewegt sich an der Linde, doch da ist kein Wind. Er lässt den Blick wandern. Was ist das, was sich da bewegt? Die Nacht steht kalt und rau, in seiner Straße bewegt sich nichts um diese Zeit. Und doch ist da eine Bewegung, sicher ist da eine Bewegung. Er hält den Atem still, die Hand greift den Holzpfosten, der Körper aufrecht, sein Blick ist scharf. Der alte Mann hat gute Augen. Hinunter, die Straße hinunter. Wieder ein Schatten am Baum, ein Blattgeflecht im Wind, aber nochmal, da ist kein Wind. Die Linde ist älter als der alte Mann. Sie steht hinter der Mauer zum Friedhof, ihre Äste überragen die Straße mit Hohn. Gegenüber die Häuser, wo die Familien wohnen mit den Kindern. Die mit den Einfahrten und den Autos und den Basketballkörben. Im Sommer steht da auch ein Grill, doch es ist kalt heut Nacht. Die Szene ist zum Bild gefroren. Und plötzlich ist da ein Dachs. Er ist von der Mauer auf die Straße geklettert oder gesprungen, können Dachse springen? Egal, jetzt steht er da, mitten auf der Straße, als ob er den Menschen zuruft, bleibt in euren Häusern, heut Nacht gehört die Straße mir. Heut Nacht ist die Straße mein Revier. Ich schnüffle am Asphalt, und da liegt ein Pappbecher, ich schnüffle am Pappbecher, den ihr weggeworfen habt, igitt. Ein Schachtdeckel, ein Auto, ein Rinnstein. Alles will sachgerecht untersucht sein. Der Dachs nimmt sich Zeit für seine Inspektion, keine Eile drängt ihn, genauso wenig wie den alten Mann, der zuschaut, doch davon weiß der Dachs ja nichts. Er fühlt sich unbeobachtet und begutachtet. Ein anderes Auto, ein Aufsteller eines Geschäfts, ein Fahrrad. Schnuppert und schnüffelt. Duft ist seine Welt. Ruhig schnüffelt er umher. Minuten später ist seine Untersuchung abgeschlossen. Er wendet sich zurück. Ein kleiner Pfad trennt den Friedhof vom benachbarten Haus. Dort will er hin, und dorthin ist er nun verschwunden.
Erst spät wendet der alte Mann seinen Blick. Der Dachs wird nicht wiederkommen. Was hat ihn hierher verschlagen, fragt sich der Mann. Er kann den Dachs nicht begreifen. Doch spürt er eine Neugier, es ist ein seltenes Gefühl, oder mehr noch, ein Drang. Es ist eindeutig, der Dachs hat sein Interesse geweckt. Für nicht mehr viel bringt er Interesse auf. Manchmal schaut er Nachrichten, doch sie interessieren ihn nicht mehr. Jetzt blickt er nur noch auf die Straße, wartet auf etwas, das sein Feuer weckt, das ihn zwingt. Dieser Dachs hat ihn gezwungen. Mindestens fünfzehn Minuten ist er dagestanden in der Kälte, regungslos, wie ein Idiot, der noch nie von einer Lungenentzündung gehört hat. Sie müssen sich vorsehen und so weiter. Die Stimme der Ärztin klingt in seinem Ohr, er verscheucht den Klang, nicht jetzt. Er fühlt sich lebendig. Spürt die raue Kälte auf seiner Haut, auf seinen verschuppten Händen, aber es macht ihm nichts, im Gegenteil, die Luft tut ihm gut. Neugier und Interesse lassen den Körper hinter sich, oder sie ziehen ihn mit, ohne Rücksicht auf Verluste, gern nehmen sie Kollateralschäden in Kauf. Der Körper reagiert dankbar, findet in seinen Urzustand zurück, weit weg von angenehm oder behutsam. Sein Körper. Ein Soldatenkörper. Das ist er. Ein Soldat im Vorort. Wenn es darauf ankommt, kann er Stunden verbringen ohne einen Schluck Wasser oder einen Gang aufs Klo, dann kann er bluten, und es stört ihn nicht. Er ignoriert es einfach. Irgendwann hört es schon wieder auf. Er lächelt. Für einen kurzen Moment hat er sein Alter besiegt, dank eines Dachses, der sich auf die Straße verirrt hat.
Er wird übermütig. Will die Gunst der Stunde nutzen, jetzt, wo er wieder ein junger Mann ist, voller Lebenskraft und Tatendrang. Er geht in den Schuppen und kommt mit zwei Holzscheiten wieder heraus. Er trägt sie in der Armbeuge, damit eine Hand frei bleibt. Ohne Zögern ertastet er den Weg zurück ins Haus, vorsichtig, aber sicheren Schritts. Selbstbewusst greift die Hand nach dem Geländer. Der Mann ist nicht wiederzuerkennen. Als Greis ist er aus dem Haus gegangen, als Jüngling kehrt er zurück. Ein Zaubertrank oder Hexenspruch. Schon ist er oben auf der Veranda angelangt, das ging schnell. Die Haustür steht offen. Er tritt ein, durch den kurzen Flur, in sein Wohnzimmer, wo der Kamin steht und das Sofa und der Fernseher. Lädt seine Ware ab, geht nochmal zurück, um die Haustür zu verriegeln, es ist schon spät. Er fürchtet den Einbruch nicht, doch es gibt stumme Gäste, alte Geister, auf die er lieber verzichten will. Blickt auf die Uhr. Bald Mitternacht. Ein Bild über dem Kamin: romantische Szenerie. Eine Gruppe von vier Menschen und ein Hirsch, traulich vereint. Im Hintergrund wächst der Wald. Das Bild hängt schon lange hier, er hat es längst vergessen, doch heute fängt es seinen Blick. Er stutzt. Fragt sich für einen Moment, ob das Bild neu ist, das da hängt. Dann muss er lachen ob der kurzen Verwirrung seines Geistes. Er hat das Gemälde vor langer Zeit gekauft, von einem befreundeten Maler, naja, befreundet waren sie eigentlich nicht gewesen, sie hatten sich kennengelernt über gemeinsame Freunde. Ein Freundesfreund. Er malte abstrakt, dieser malende Bekannte, großformatige Flächen mit einer eigenartigen Pinselstruktur. Er fertigte seine Pinsel selbst an, erzählte er einmal, die dicken und die dünnen Haare müssten eine bestimmtes Verhältnis aufweisen. Nur er selbst könne diese Pinsel herstellen. Gekaufte Pinsel seien ihm ein Graus. Der damals noch nicht so alte Mann nickte interessiert, was eine Lüge war, denn die abstrakten Flächen sagten ihm nichts. Sie waren kalt und standen unbeteiligt herum. Doch er mochte den Maler, und ließ sich geduldig durch das Atelier führen. Ein dumpf-verwischtes gräuliches Etwas auf einer weißen Leinwand. Die Farbe war so dick aufgetragen, dass das Bild schon als Skulptur gelten könnte. Erklärte der Maler. Der damals noch nicht so alte Mann nickte. Ein buntes Farbwerk, eine Hommage an irgendeinen anderen Künstler. Und dann entdeckte er das Bild mit dem Wald und dem Hirsch. Ein romantisches Sujet mit impressionistischer Anmutung. Der Unterschied schrie ihn an. Was tat dieses Bild hier? Es war nicht gut gemalt, die Perspektiven stimmten nicht, das konnte sogar er sehen, der Kunstbanause, aber aus irgendeinem Grund tat es der Wirkung keinen Abbruch. Er würde es gerne kaufen. Dieses Bild, fragte der Maler ungläubig, das kriege er geschenkt.
Etwas ist anders in dieser Nacht. Er kann es spüren. Der Dachs. Das Bild. Dazu dieses Gefühl, sich um ein halbes Jahrhundert verjüngt zu haben, dieser jugendliche Drang, Marschrichtung nach vorne. Er horcht in sich. Kein Zweifel, sein Herz pocht. Lustvoll, ironisch. Eine Leichtigkeit umfängt den alten Mann. Er geht zur Vitrine und schenkt sich einen Gin ein. Prostet zu dem Bild über dem Kamin und trinkt in einem Zug. Sieht an sich runter. Ein alter, ungewaschener Pyjama, kein Wunder, dass er draußen gefroren hat. Ein Ekel überkommt ihn, weg, weg. Nackt geht er ins Bad, begutachtet die ledrige Haut, die rauen Hände, die Furchen im Gesicht. Findet, sich trotz allem gut gehalten zu haben. Wenig Fett, sein Körper hat etwas Sehniges bewahrt. Früher sah er gut aus, jetzt erinnert er sich daran. An die Blicke, die er geworfen, an die, die er empfangen hat. Was war nur los mit ihm? Er nimmt den Rasierapparat und gönnt sich einen Aufwasch. Dann ins Schlafzimmer, zur Kommode, Hose, Hemd, Weste, so ist es besser. All das gleitet ihm so leicht von der Hand, als ob es keinerlei Anstrengungen bedürfe. Sich zu bücken. In die Hocke zu gehen. Sich aufrecht zu halten. Einfache Handlungen, ein schlichter Befehl vom Hirn. Elektrische Impulse, durch die Nervenbahnen geleitet, und die Muskeln gehorchen wie Rekruten. Keine Gegenwehr, kein Murren, kein Zögern. Fertig. Zurück ins Wohnzimmer. Ein zweites Glas Gin. Er trinkt nicht viel, meistens nur ein Bier zum Abendbrot, Härteres nur, wenn er im Stich gelassen wird vom Schlaf. Er schaltet den Fernsehapparat ein, drei, vier Programme, dann wieder aus, nicht heute Nacht, heut Nacht ist keine Fernsehnacht. Was tun? An Schlaf war nicht zu denken. Er blickt aus dem Fenster. Da steht er, der rote Toyota, direkt gegenüber. In den Scheiben spiegelt sich der Mond.
Ein kurzer Stich, ein plötzliches Flackern. Unmerklich, aber nur fast. Es fährt durch seinen Körper, entflammt sein Gehirn. Schon ist es wieder vorbei. Da war doch nichts. Abgetan. An jedem anderen Abend hätte er es abgetan. Ein Zipperlein, ganz normal. Sein Alter, sein Alter. Doch heute nicht. Heute ist die Nacht, an der etwas anders ist als in jenen anderen Nächten. Heut Nacht ist sein Körper ein Radar, empfängt die niedrigsten Frequenzen. Er spürt und horcht. Steht in seinem Wohnzimmer, die Augen zur Straße gerichtet, als es ihn durchfährt, wie ein elektrischer Stoß. Ein Kurzschluss im Gehirn. Zwei lose Enden haben sich zu einem Ganzen geschlossen. Eine Beobachtung wurde an eine Erfahrung gekoppelt, oder an eine Erinnerung? Etwas passt, und die Passung stimuliert den Geist. Er ist hellwach, der Körper gespannt. Noch weiß er nicht, was das ist, das passt. Was da passiert. Er atmet aus. Sammelt sich, versucht es, setzt sich auf den Stuhl am Esstisch. Abends sitzt er hier zum Abendbrot. Hier denkt er nach über die Erlebnisse des Tages. Jeden Abend aufs neue. Beobachtung und Erfahrung. Wahrnehmung und Erinnerung. Zeit gegen Zeit. Er schenkt sich einen dritten Gin ein. Nippt daran, aber trinkt nicht aus. Sein Verstand will Klarheit. Er hat gesehen. Nein, nicht er. Seine Augen haben gesehen, aber was haben sie gesehen? Los, los! Strengt euch an! Der alte Mann verlangt Gehorsam. Jetzt müssen alle Sinne zusammenarbeiten. Einen Suchtrupp bilden, eine Verbindung herstellen zu seinen Gedanken. Verblüfft registriert er seine Furcht.
Warte nur, warte nur. Er geht die Treppe nach oben. Betritt das Zimmer zu seiner linken. Regale mit Büchern, stapelweise Papier, ein großer eckiger Holztisch auf Böcken, Zeichnungen. Geradeaus das Fenster zur Straße, darunter eine Bank. Er schiebt die Bank nach vorne, legt ein Kissen darauf, macht sich auf den Schmerz gefasst und kniet. Er kniet auf der Bank unter dem Fenster. Seine Nerven brüllen um Hilfe. Aufhören! Er atmet tief aus. Er muss sich einfühlen in den Schmerz. Du bist langweilig, Schmerz, eine dumme Kette von Ereignissen. Plumpe Physis. Vorhersehbar, vergänglich. Ignorieren! Er ist Soldat. Er hat sich in Stellung gebracht. Er lauert und guckt. Das ist seine Scharte. Von hier aus hat er gute Sicht. Was habe ich gesehen. Was habe ich gesehen. Nein, anders. System! Er blickt zur Stelle, an der der Dachs verschwunden ist. Der kleine Pfad zwischen Friedhofsmauer und dem gelben schmalen Haus. Eine Bäckerei, darüber ein paar Zimmer. Nichts. Blickt die Straße hinauf, weiter oben kreuzt sie die Bahn. Geradeaus geht es weit über die Felder. Am Horizont, ganz hinten, wächst der Wald. Er hält den Blick, jetzt aber weiter, System! Die Augen wandern nach links. Die Straße herunter liegen die Menschen in ihren Häusern, kein Licht. Friedlich schläft die Stadt. Häuser, Autos, Geschäfte. Der Friedhof. Mauern und Bäume. Über allem wacht der Mond. Noch ein Blick, skeptisch jetzt. Häuser, Autos, Geschäfte, Friedhof, Mauern und Bäume. Da noch ein Abfalleimer und dort noch ein Aufsteller. Nicht mehr. Ein paar wenige Begriffe. Doch zusammen ergeben sie ein Bild. Haus, Baum, Mauer, Friedhof, Straße, Laden, Auto, Mond. Ein Vorort. Er stutzt. Legt den Kopf zurück. Etwas fällt ihm ins Auge. An der Wand neben dem Fenster hängt eine Maske. Eine bemalte Maske von einem Jahrmarkt. Venezianisch, hat man ihm gesagt. Warum hat er dieses hässliche Ding nur gekauft? Warum hat er dieses Bild aufgehängt über dem Kamin? Was war er für ein Mensch gewesen, damals? Still, Ohrfeige, Konzentration. Nochmal! Haus, Baum, Mauer, Friedhof, Straße, Laden, Auto, Mond. Er hebt die Augenbauen. Da. Wie ein Leuchtturm in der Ferne. Eine Ahnung. Da ist eine Ahnung. Ruhig, ruhig. Nicht verscheuchen. Der alte Mann wendet den Blick nach innen. Seine Gedanken nehmen neue Wege. Da steht der Turm, winkt ihm zu mit schwachem Licht. Und da ist ein Pfad. Der Pfad zum Turm. Der hat sich grade aufgetan. Der alte Mann weiß noch nicht, aber er wird wissen. Seine Gedanken nehmen ihn an die Hand. Er lässt sich führen. Wartet geduldig, denn der Weg ist lang, verwinkelt, aber gesegnet mit Erkenntnis. Er schiebt die Hoffnung nach vorne. Weiter, weiter. Und siehe: Das Boot legt an, die Erkenntnis auch. Erneut beginnt sein Hirn zu flackern. Er sieht aus dem Fenster. Da ist die Straße. Da steht der Mond. Dort sind die Häuser, die Autos, der Friedhof, der Abfalleimer, der Aufsteller, die Mauer, der Baum, das Geschäft. Da war der Dachs. Ein stimmiges Zusammenspiel. Wirklichkeit, dinghafte Realität. Bislang. Aber das ist nur ein Bild. Jetzt kann er es endlich sehen. Das ist eine Szene, eine Kulisse. Wie aus einem Stück im Theater. Das ist hingestellt worden. Aufgestellt. Für ihn. All das hat jemand für ihn aufgestellt. Wer? Eine jähe Angst befällt den Mann. Kein Zweifel, ihm wird was vorgemacht. Ein Betrug. Nein, mehr noch: eine Falle. Ihm wurde eine Falle gestellt. Dunkle Mächte haben sich zusammengetan, ihn zu täuschen. Sie haben einen Dachs vorangeschickt. Einen Späher! Wieder ein Schlag. Plötzlich ergibt sich ein Sinn, wo vorher nichts war als Wirrnis und Dunkelheit. Die Neugier macht der Gewissheit Platz. Kein Dachs verirrt sich freiwillig hierher. Der Dachs ist geschickt worden. Er ist zu ihm geschickt worden. Er hat lang gewartet auf den rechten Zeitpunkt. Und gerade erstattet er Bericht. Der Gedanke lässt ihn beben. Alles da, Fakten, jetzt eingegliedert in eine logische Kette, plausibel, präzise, grausam. Panik blitzt auf in dem alten Mann. Er fühlt sich unvorbereitet, ausgeliefert. Sein Knie schmerzt ohne Unterlass.
Aber er ist kampfbereit. Vorne, nach vorne. Die Panik abschütteln. Den Zweifel begraben. Dem übermächtigen Instinkt vertrauen. Der alte Mann steht auf, das Knie dankt es ihm sogleich. Keine Zeit verlieren. Unten, nach unten. Er windet sich die Treppe herunter. Schon ist er im Flur. Zieht sich seine Stiefel an und wirft den Mantel um. Wappnet sich. Dankt seiner neugewonnenen Jugend. Sie kam zur rechten Zeit. Im Schafzimmer ist der Waffenschrank. Schon lang nicht mehr geöffnet. Die Ruh ist hin, er weiß, was zu tun ist. Ein vierstelliger Code, schnell eingegeben, seine Gedanken sind klar. Er spricht das kleine Einmaleins. Nimmt das Gewehr aus dem Schrank, lädt und entsichert. Angriff ist die beste Verteidigung, oder? Er ist Soldat. Er wird nicht tatenlos dabei zusehen, wie sie zuschnappt, die Falle. Er zieht ins Feld.
Fünf Minuten später ist er auf der Straße. Hält das Gewehr bereit, rechnet jeden Moment mit dem Angriff. Seine Hand zittert. Er hätte Handschuhe anziehen sollen, doch zu spät. Eine Rückkehr ist ausgeschlossen. Langsam geht der alte Mann an der Friedhofsmauer entlang. Tod und Gräber schrecken ihn nicht, allein der Dachs zwingt ihn danieder. Er muss ihn finden. Schon erreicht er den schmalen Pfad, der das gelbe Haus vom Friedhofsgarten trennt. Kein Asphalt, nur zusammengetretene Erde. Er stützt sich an der Mauer. Bläst zum Marsch. Setzt Schritt vor Schritt, kämpft sich voran, und gleichmütig schlägt das Herz. Am Rand der Mauer Gras und Sträucher, egal, weiter, sachte wie ein Kahn im Wind. Minuten vergehen, er hat den Friedhof passiert, die Häuser hinter sich gelassen. Der Pfad mündet in ein Feld. Bestellte Natur. Er betritt das Feld, die Erde ist gefroren, sein Schritt ist fest. Pause. Atmen. Blick zurück, da ist der Pfad. Die Mauer, die den Friedhof zum Feld hin begrenzt. Und weiter hinten steht sein Haus. Seine Feste. Unerreichbar ferne nun. Ihn fröstelt. Er greift nach dem Gewehr, die Knöchel treten weiß hervor. Wo bist du, wo bist du. Welch Wahnsinn hat ihn hierher geritten? Er hat es mit einem gefährlichen Gegner zu tun, kann sich keine Unachtsamkeit leisten. Schließt kurz die Augen, die Gedanken wirbeln im Wind. Er hat sich dem Feind selbst ausgeliefert, das begreift er nun. Sich selbst zur Zielscheibe gemacht. Allein steht er da auf einem Feld, schutzlos, wie ein leuchtender Pfeil, hierher! Hierher! Jetzt müssen sie nur noch kommen, und sie wissen, wo er ist, dafür hat der Dachs gesorgt. Er ist sein eigener Köder geworden. Da ist sie wieder, die Panik, mühsam unterdrückt, doch jetzt kann er sie nicht mehr aufhalten, sie bricht sich Bahn, kontrolliert die Gedanken, peitscht ihn vor sich her, der Atem wird flach, die Fasern seines Körpers sind zum Bersten gespannt, die Waffe, halt dich an die Waffe, ziel und schieß! Worauf wartest du! Aber wohin schießen? Ein flacher Schein vom Mond ins Feld. Wohin denn schießen? Doch wohl nicht in den eigenen Kopf? Nein, ziel dahin, wo der unsichtbare Feind dir lauert. Ziel dahin, und schieß. Wohin nur, wohin? Alter Mann! Dreh dich, dreh dich um, dreh dich doch um, sieh doch! Er dreht sich um. Wendet den Blick. Starrt auf die Mauer, gelähmt, die Augen geweitet vor Entsetzen. Der Dachs. Drückt geduckt sich an der Mauer entlang. Da ist er ja, der unsichtbare Feind. Du hast mich verraten, jetzt musst du sterben. Der Dachs hält inne. Wendet den Kopf in seine Richtung. Kein Zögern mehr. Keine Angst. Du bist Soldat. Ziel und schieß!
Er will ihn begraben. Dem toten Feind die Ehre erweisen. Auf seinem Grund will er ihn begraben. Noch ist die Arbeit nicht getan. Doch der Dachs ist leichter als gedacht. Er kann ihn locker in der Hand tragen. Packt ihn an den Pfoten, komm, Grimbart, komm zu deiner letzten Ruh. Zusammen treten sie den Heimweg an, vorbei an der Mauer, am schmalen gelben Haus, zurück auf die Straße, da ist Licht. Oben im schmalen gelben Haus leuchtet ein Fenster auf sie herab. Der Schuss hat die Nachbarschaft geweckt, das wollte er nicht. Er hält inne, hält das Tier vor sich verborgen, drückt sich an die Hauswand, niemand darf ihn sehen. Das ist eine Angelegenheit zwischen Grimbart und ihm. Ruhig hält er den Atem, gleich wird das Licht ausgehen, niemand wird dem Geräusch nachgehen, es ist mitten in der Nacht, morgen ist auch noch ein Tag. Er lauscht in die Dunkelheit. Ein anderes Geräusch. Wasser. Eine Spülung. Ein nächtlicher Toilettengang, direkt über ihm im schmalen gelben Haus. Kurz muss er lachen. Er hat sich dem Tod so nah gefühlt, aber jetzt muss er pinkeln. Er hebt die Stirn, sein Gesicht nimmt einen ungewohnten Zug an. Verzieht sich in wilder Grausamkeit. Der Tod ist banal, nichts als Fleisch und Säfte. Blickt auf das blutige Bündel in seiner Hand. Gerötetes Fell, nichtssagende Augen. Er will auf ihn urinieren, seinen Feind beschmutzen, aber er belässt es bei der Fantasie. Der Gang zum Klo wird sein Triumph schon sein. Oben erlischt das Licht.
Mit einer Schaufel geht er an die Arbeit. Hätte sich gern auf den Sessel gelassen mit einem Glas voll Gin. Aber der Feind muss unter die Erde, wo er sich nicht wieder erheben kann gegen ihn. Unter seine Erde. Unter sein Reich. Er will doch nichts als Frieden! So soll der Dachs begraben sein. Die Arbeit ist schwer, der Boden widerständig, die Erde voll Frost. Wäre er kräftiger, aber das ist er nicht. Er ist alt. Schweiß und Herzschlag. Schlägt die Schaufel in den Frost. Keine Chance. Er wechselt zum Sandkasten, viele Jahre unbenutzt, ja, das geht besser. Schub um Schub weicht der Sand seinem Willen. Eine Mulde entsteht. Den Dachs hat er auf die Mülltonnen gelegt, dort muss er ihn nun holen. Also nach vorne zum Schuppen. Da ist sie wieder, die Kulisse, die aufgestellt wurde für ihn. Die Straße, die Häuser, die Autos, der Baum, der Laden, der Friedhof. Ein toter Dachs. Wie spät es wohl ist? Im Schuppen liegt eine grüne Plane, in die wird der Dachs nun eingewickelt. Dann noch fest mit Draht verschnürt, fertig! Stolz betrachtet er das grüne Paket, den Sarg, gleich ist es geschafft, doch denkste, die Nacht ist lang noch nicht vorbei. Wieder ein Flackern im Gehirn, wieder regt sich der Instinkt, der übermächtige, wunderbare, unleugbare Instinkt. Dieser schreckliche Instinkt. Ein Blick. Er hat einen Blick gespürt. Den Blick eines Menschen. Der Blick eines Menschen ruht auf seinem Körper. Er weiß es, und es ist egal, woher er es weiß. Und natürlich wird er den Verursacher nicht finden. Dafür ist gesorgt, nicht umsonst wurde hier eine Bühne aufgebaut, eine krude Szenerie, allein zum Zwecke, ihn zu täuschen, in Sicherheit zu wiegen, das war teuer und aufwendig und gezielt und bewusst. Er hat zu spät reagiert. Der Dachs hat seinen Rapport geliefert, dann musste er sterben, das Schicksal des Boten. Kollateralschaden, unwichtig für den großen Plan. Sie wissen Bescheid. Er muss zurück. Zurück in seine Burg, zu seiner Scharte, jetzt, schnell. Er legt das Paket auf den Deckel der Tonne und geht zurück zum Haus. Versucht, gelassen und ruhig zu wirken, sie dürfen seine Angst nicht spüren. Erreicht die kleine Wiese vor dem Haus. Geht am offenen Grab vorbei. Will nicht hinsehen, aber tut es doch, ein Fehler. Was er sieht, lässt ihn erschaudern. Das ist kein Grab für einen Dachs. Das ist das Grab für einen Menschen. Für wen ist es gegraben worden? Er weiß es nicht. Worauf soll er sich verlassen, all dies ein Trugbild, die Straße, der Vorort, seine Welt, das Grab. Nur auf sich kann er noch hören. Sein Instinkt soll nun sein Kompass sein. Wieder durchzuckt ihn ein Schlag. Deutlich spürt er den Blick. Seinen Körper im Gesichtsfeld eines anderen Menschen. Oder sind es mehrere? Er wird beobachtet. Fast ist es mit Händen greifbar. Es treibt den Schweiß auf seine Stirn. Die Panik ist jetzt unverhohlen. Er läuft, läuft so schnell er kann. Da ist sein Haus. Die Veranda. Die vier Stufen, hinauf, hinauf. Die Angst macht ihm Beine. Hinein da! Zweimal wird die Tür verriegelt. Er steht im Flur und löscht das Licht, im Keller ist eine Taschenlampe, die braucht er jetzt. Sein Knie brüllt vor Schmerz, lange kann er es nicht mehr halten, er muss liegen, er muss dringend liegen, aber das geht nicht, nicht jetzt, wo sie da sind, wo sie gekommen sind, um ihn zu holen. Hastet den Flur entlang, dann die Treppe hinunter ins Dunkle. Kinder haben Angst vor der Schwärze des Kellers, nicht er, er ist Soldat, bedrängt und beschossen, aber immer noch Soldat. Vor ihm das Regal mit den Werkzeugen. Oben links die Taschenlampe. Er greift ins Dunkle und findet sie sofort. Schnell zurück, nach oben. Wieder im Flur. Vor ihm liegen die Weiten seines Wohnzimmers. Der Sessel scheint ihn zu verhöhnen. Was soll er tun? Der Schmerz in seinem Knie hat nachgelassen, oder er selbst ist stumpf geworden in den letzten Minuten. Gut so. Er muss zurück auf Position, mit Lampe und Gewehr. Das Gewehr. Wo ist das Gewehr? Das hat er draußen vor der Tür gelassen, der Dummkopf, er hat es draußen an die Wand gelehnt, und dort hat er es gelassen, im dumpfen Siegestaumel, fröhlich gepinkelt, und vor der Burg sein einziger Schild. Er kann nicht mehr. Begräbt seinen Kopf. Will weinen. Liegen und weinen. Doch er kann es nicht erlauben. Muss die Zähne zusammenbeißen. Abstand gewinnen zu seinem Gefühl. Es hilft nichts, er muss das Gatter nochmal öffnen, die Zugbrücke herunterlassen. Die Angst darf jetzt nicht vollends Herrin werden. Langsam schleicht er den Flur entlang. Dort vorne ist die Tür. Er richtet den Schein der Taschenlampe auf das Schloss. Der Schlüssel steckt. Langsam nähert er sich, dann Halt! Lautlos steht er da. Spitzt die Ohren. Ein Wind ist aufgezogen, ein seltenes Pfeifen, wie von einem Instrument, das draußen jemand für ihn spielt. Genug. Ihr wollt mich in den Wahnsinn treiben, aber nicht mit mir. Er treibt seinen Schritt nach vorne, beharrlich, steht vor der Tür, atmet, keine Zeit zum Denken, er dreht den Schlüssel, einmal, zweimal, die Tür springt auf, der alte Mann nach draußen, und jetzt alles gleichzeitig, ein Fest der Sinne, der Wind pfeift, er kann nichts sehen, der Schein der Taschenlampe flackert, seine Hand zittert, das Licht wird wild herumgeworfen, es reißt die Welt in Stücke, nichts als Schatten, helle Punkte, er schreit, wer seid ihr, zeigt euch, ihr Feiglinge, zeigt euch doch, er greift ins Nichts, wieder das Pfeifen, der grausige Wind, bitte lieber Gott, lass es mich haben, lass es mich haben, er greift nach dem Gewehr, das er nicht sieht, greift ins Leere, komm schon, wo bist du, komm schon, und endlich, das Licht erfasst die Waffe, hinter ihm an die Wand gelehnt, er packt das Gewehr, hält es fest wie sein eigenes Kind, Schritt zurück, ins Haus, in seine Burg, er schlägt die Türe zu mit Gewalt, der Holzlack splittert, den Schlüssel gedreht, einmal, zweimal, dreimal, aus.
Der alte Mann sitzt an seinem Platz. Sein Stuhl, sein Tisch. Vor ihm ein Glas Gin. Er muss seine Nerven beruhigen. Trinkt behutsam. Lässt den Gin die Arbeit machen. Eine Tablette gegen die Schmerzen. Er ist versehrt, kehrt verwundet von der Front zurück, doch nein, noch ist der Krieg ja nicht vorbei. Dennoch gönnt er sich den Moment des Friedens. Lauscht dem sanften Pfeifen des Windes. Blickt auf das Bild über dem Kamin. Der Wald. Der Hirsch. Die Gruppe. Schließt die Augen, geht nach innen, öffnet den Tresor, da liegen sie, die Erinnerungen. Manchmal holt er sie hervor. Jetzt will er sie bei sich haben. Denn er weiß, dass er die Nacht nicht überleben wird. Jetzt sollen sie bei ihm sein. Ein Anker, ein Schutz. Denn leicht wird er es ihnen nicht machen. Wenn sie kommen, wird er gewappnet sein. Das ist er sich und seinem Leben schuldig. Das ist er auch seinen Gegnern schuldig. Sie haben viel Aufwand betrieben, um ihn zu stellen. Da schuldet er ihnen einen ordentlichen Endkampf. Der Gin ist leer, die Schlacht beginnt. Bewaffnet mit Gewehr und Taschenlampe geht er die Treppe nach oben, ins Zimmer links, zur Bank unter dem Fenster. Ein Kippfenster, das kommt ihm entgegen. Nur ein kleiner Spalt wird geöffnet. Das Gewehr wird durchgeschoben. Auf der Mauer, auf der Lauer. Er kniet und ignoriert den Schmerz. Der Lauf des Gewehrs ist auf die Einfahrt gerichtet. Jetzt ist es ganz schwarz, der Mond hat sich zurückgezogen hinter Wolken. Er schaltet die Taschenlampe ein. Ein gutes Modell mit einem kräftigen Strahl. Punkt für Punkt gleiten seine Augen über die Kulisse. Dort ist der Garten. Das offene Grab. Das Vordach mit den Tonnen. Die Straße. Der rote Toyota. Die Mauer. Die Linde. Der Friedhof. Die Bäckerei. Und irgendwo dahinten wächst der Wald. Von vorn. Garten, Grab, Vordach, Tonnen, Straße, Toyota, Mauer, Linde, Friedhof, Bäckerei, ganz hinten der Wald. Sein Vorort, sein Leben. Ein Sujet für eine kleine Geschichte. Was hat er vorzuweisen? Ein Haus im Vorort, mühsam abgezahlt. Ein Jagdschein, wenige Bekannte. Ein paar Bücher über den Krieg. Und seine Zeichnungen. Er zeichnet gerne. Ohne Farbe. Die Dinge sollen ihre Fleischlichkeit verlieren. Sie sollen Struktur werden, verdingte Form. Dann kann er sie begreifen.
Da, was ist das? Was ist das, das er da sieht? Dort, auf der anderen Straßenseite. Dort, im roten Toyota. Da ist doch was. Jetzt kann er es sehen, jetzt, da der Mond sich nicht mehr in den Scheiben spiegelt. Der alte Mann strengt seine Augen an, da ist jemand, ganz sicher ist da jemand, aber erkennen kann er nichts. Einen Moment! Er steht auf, das tut weh, geht zum Regal, tauscht Gewehr gegen Fernglas, ob das klug ist? Egal, er muss wissen, muss sehen. Also zurück zum Fenster. Hält sich das Fernglas vor die Augen und späht in die Nacht. Ein leichter Schein der Straßenlaterne, das genügt. Dort, im roten Toyota, sitzt ein Mann. Er tut nichts, er sitzt nur da am Steuer, steigt nicht aus, fährt nicht weg, er raucht nicht einmal eine Zigarette, oh wie gerne hätte er jetzt eine! Der Mann am Steuer sitzt nur da. Sitzt und wartet. Wartet er? Worauf wartet er? Doch wohl auf ihn! Da ist sie also, die Vorhut, der neue Späher, der neue Feind. Der alte Mann will ihn kennen lernen, will mehr wissen, mehr sehen. Er weiß, es ist gefährlich, dennoch schaltet er die Taschenlampe ein und richtet sie auf die Gestalt im Wagen. Jetzt ist der Mann enthüllt im Glanz. Er ist groß und schlaksig und trägt eine Brille, gut gekleidet im dunklen Anzug, das Hemd bis oben zugeknöpft. Seine Miene verrät Gelassenheit und Ruhe. Jetzt dreht er den Kopf, sein Blick ist nun auf das Haus gerichtet. Es ist ein offener, direkter Blick. Ein Blick in sein Herz? Dem alten Mann stockt der Atem, sicher kann der Mann am Steuer ihn nicht sehen, sicher weiß er nicht, kann doch gar nicht wissen, dass sein Opfer hier oben sitzt am Fenster, voller Angst, vergeblich lauernd. Atmet aus. Warte nur. Warte nur, balde. Schon vierzig Sekunden, oder schon fünfzig, nein, doch schon sechzig, ach was, eine Ewigkeit, von Angesicht zu Angesicht, wo ist sie, die Zeit, wo ist sie geblieben? Dann, erst dann dreht sich der Mann wieder weg, ohne Warnung, starrt nach vorne, durch die Windschutzscheibe, auf die Straße, auf den kleinen Zugang neben dem Friedhof. Dort, an dieser Stelle, ist der Dachs erschienen. Dort hat er sich offenbart, Grimbart, der Verräter. Der alte Mann schaltet die Taschenlampe aus. Dunkel umfängt ihn die Nacht.
Was soll er tun, er weiß es nicht. Drüben der Mann am Steuer, unter seinem Fenster der Leichnam, und irgendwo da draußen sammeln sie sich. Bald werden sie kommen, doch was kann er tun? Er denkt, denkt nach, seine Gedanken wandern ohne Ziel, soll er zu dem Wagen gehen, sich stellen? Beim Nachbarn klingeln, um Hilfe bitten? Nein, nein, er allein trägt sein Geschick. Außerdem, wem soll er trauen? Er ist Soldat, in Unterzahl, aber geschützt, hier in seiner Burg, sollen sie doch kommen, sollen sie! Seine Gedanken kreisen schneller jetzt, ein Gemisch aus Angst und Schmerz, sein Knie, sein Knie! Schnell die Salbe aufgetan, schön eingerieben in die Haut, o ja, das hilft, und zurück auf Position, das wäre ja gelacht, meine Glieder sind meine Diener, doch Wache jetzt, scharf den Blick raus in die Nacht! Seine Augenlider gespannt, und dann, plötzlich, im Entsetzen sausend vereint, Licht. Licht über Licht. Es schlägt auf ihn ein. Gegenüber, an der Mauer, das schmale gelbe Haus, im Fenster ganz oben, Licht! Da leuchtet ihm ein Licht entgegen, gnadenlos, warnend, genug! Er schnellt zurück. Das hätte ihm schon den Rest gegeben, aber nein, nichts ist genug, ein zweiter Lichtschein, im Nachbarshaus, direkt neben seinem, das ganze Zimmer brennt vor Licht, so nah, drohend, heulend, ein Signal, sie rücken näher, wir rücken näher, warte nur, warte nur! Was jetzt? Was tun? Retour! Ein Warnschuss in die Nacht gefeuert, ein lauter Knall, doch sie hören es nicht, denn plötzlich heult ein Wagen auf, sieh, sieh doch, dort auf der anderen Straßenseite! Wehe weh! Auch im roten Toyota brennt ein Licht. Der Mann am Steuer hat die Zeichen wohl verstanden. Die Scheinwerfer springen an, und schon rast der Wagen los, die Straße runter, zurück ins Lager, und dort erstattet er Bericht, der bebrillte Mann, und dann werden sie kommen, sie werden kommen, doch da ist der alte Mann schon losgerannt, losgehumpelt, humpelt irgendwie die Treppe hinunter, ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, er zieht die Vorhänge zu in wildem Wahn, alles zu, das Haus muss ganz verborgen sein, doch nicht genug, er muss hinab, denn im Keller da sind Nägel, da sind Hammer, Sägen, Schraubenzieher, Waffen, muss alles mit, alles in den Beutel rein, will gut ausgerüstet sein, den Riemen über die Schulter straff gespannt, warte nur, warte nur, bereit! Die Kellertreppe wieder hoch, o weh, da stöhnt der alte Mann, denn das ist schwer, die Treppe steil, da ist es schon passiert, er bricht nach unten, stürzt, das Knie reißt auf, er krümmt sich, liegt hilflos auf der Treppe wund, er brüllt und jammert, der Schmerz zerreißt sein Innerstes, zieht sich an der Stufe hoch, doch ist längst schon zum Reptil geworden, er schreit und weint, wo ist deine Kraft geblieben, erbärmlich, alter Mann, erbärmlich, zieh dich doch die Treppe hoch, spann dein schlaffes Ärmchen an, nochmal, nochmal, gleich hast du’s doch, aber nein, er sackt zusammen, schläft, träumt, und siehe da, ganz plötzlich, wie ist es gekommen, da ist er oben, hat es geschafft.
Der alte Mann liegt in seinem engen Flur, das Gesicht nass von Schweiß und Tränen. Liegt. Atmet. Horcht. Und ist so klug als wie zuvor, denn was tun? Doch, ja. Dort, rechts, die Garderobe, im Schrank die Krücke. Das ist ein Anfang. Er stützt sich ab, die Wand ist gnädig, zieht sich entlang, greift nach der rettenden Stütze und klemmt sie unter den Arm. Er ist alt geworden, denkt er. Früher war er nicht so alt. Mühevoll richtet er sich auf. Muss kotzen, aber lässt es sein.
Der alte Mann lässt sich in seinen Sessel sinken, wehrlos, ergeben. Er kann nicht mehr. Hat im Kampf sein Knie verloren. Sollen sie doch kommen, es ist ihm gleich. In sich gekehrt sitzt er da, die Augen geschlossen, die Sinne entspannt. Der Schmerz ist Nebensache, sein Tod ist nahe. Und so ist er nicht überrascht, kein bisschen ist er überrascht, als ein Klopfen ertönt, irgendwo in seinem Haus. Er lauscht, das Geräusch kommt von oben, irgendwo im Obergeschoss. Er lauscht und wartet. Das Klopfen wird lauter, metallischer, schon längst ist es kein Klopfen mehr, vielmehr ein Schlagen, als ob jemand mit einer Zange auf die Heizung einprügelt. Sie sind da, in Ordnung. Er öffnet die Augen, sein Blick fällt auf das Bild über dem Kamin. Der Wald, die Gruppe, der Hirsch. Der alte Mann grinst müde. Er kennt den Wald. Natürlich kennt er den Wald. Er wächst hinter dem Feld, dort, wo er den Dachs getötet hat, vergeblich. Zieht sich fort über den Horizont. Dort soll es also sein. Das ist der Plan. Na gut. Er schaut zum Fenster. Draußen ein mattes Licht, bald graut der Morgen. Sein Herzschlag wird schneller, rebelliert gegen ihn. Ruhig, ruhig. Aufrecht will ich sein im Tod. Der alte Mann erhebt sich, langsam, die Krücke fest umklammert, und schiebt sich zur Tür. Dreht den Schlüssel, atmet die Luft in frischen Zügen, tief erfüllen sie die Lungen, er macht sich bereit und geht los. Langsam, langsam. Er ist alt, sehr alt, das weiß er jetzt. Jeder Schritt bedarf genauer Planung und kostet Kraft. Leise tapert er umher. Die Wolken sind verschwunden, oben am Himmel leuchtet der Mond und weist ihm den Weg. Die Straße hinunter, den Feldweg hinein, entlang der Mauer, am Friedhof vorbei. Betritt das Feld, das hat gedauert, doch zieht der Wald an ihm wie an einer Schnur. Stakst über die frostgewordene Erde. Erreicht die Waldgrenze. Erhebt den Blick und erstarrt voller Ehrfurcht. Vor ihm türmen sich die Bäume, tausende und tausende, alt und erfahren und tapfer, wie Soldaten aufgereiht in einer kruden Formation. Sie heißen ihn willkommen.
Verschlungen liegt der Bau an einem Hügel mitten im Wald. Seine Gänge und Kammern entspinnen sich in einer feingliedrigen, sternförmigen Struktur, die sich weit über den Wald und die angrenzenden Felder erstreckt. Ein uraltes Bauwerk, unentdeckt und von symmetrischer Schönheit. In stets gleichem Abstand sind Eingänge gelegt, die den Dachsen eine schnelle Flucht ermöglichen. Jedem Dachs ist ein Eingang zur Wache zugeteilt. Den Eingang zu hüten gilt als große Ehre, und zusammen verteidigen die Dachse ihren Bau. Stirbt ein Dachs, wird die Wacht an ein jüngeres Familienmitglied weitergegeben. Ein wichtiges Ereignis im Leben eines jungen Dachses. Dann findet eine große Zeremonie auf dem Hügel statt, ein heiliges Ritual, an dem auch viele andere Tiere im Wald teilnehmen. Denn der Wald ist ein Ganzes, und man zeigt sich solidarisch im Verlust und in der Freude. Meistens bleiben die Tiere unter sich. Doch manchmal, nur manchmal, wird auch ein Mensch als Gast geladen und bringt sich selbst zum Opfer dar. Ein wertvolles Geschenk, denn sein Tod gibt dem Dachs ein langes Leben. Das weiß der Wald, und nimmt den Menschen herzlich auf. Und ist die Zeremonie vorbei, dann geht das Treiben weiter im Wald. Dann geht der Dachs an seine Wacht.