EMILIA UND DIE FREIHEIT

Essay zu "Emilia Galotti" von Lessing

Emilia Galotti ist ein Drama der ungebremsten Beschleunigung, der Eskalation. Zwei Parteien treten gegeneinander an in einem Machtspiel, das auf unvorhersehbare Weise eskaliert. Die eine Fraktion ist die des Adels in Gestalt des Prinzen Hettore Gonzaga, der das Fürstentum Guastalla regiert. Die andere Fraktion bildet die Welt des (Groß-)Bürgertums, vertreten durch den Vater der Militärfamilie Galotti, den Oberst Odoardo Galotti. Diese beiden Gegenspieler verteidigen zwei Positionen (und Machtinteressen), die unterschiedlicher nicht sein können: Steht der Prinz für den absolutistischen Herrscher par excellence, vertritt Odoardo die Werte des aufstrebenden Bürgertums. "Er [Odoardo] war es, der sich meinen Ansprüchen auf Sabionetta am heftigsten widersetzte", beschreibt der Prinz knapp den schwelenden Konflikt. Dieser Antagonismus hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, Lessings Drama als ein bürgerliches Tendenzstück im Geiste der Aufklärung zu lesen, das die Emanzipation des Bürgertums über den Adel begleitet.

Doch diese Lesart greift zu kurz. Denn im Machtkampf beider Streitparteien wird eine junge Frau zerrieben, die titelgebende Emilia Galotti. Betrachtet man die Situation aus der Sicht dieser Figur, drehen sich die Verhältnisse kurzerhand um. Emilia soll auf Wunsch ihres Vaters mit einem Grafen verheiratet werden, der eine Verlängerung der väterlichen Hand – oder auch schlicht eine Vater-Kopie – ist. Mit diesem perfekten Schwiegersohn an ihrer Seite soll Emilia, so Odoardos Vorstellung, aufs Land ziehen, um ein lasterfreies, ungefährdetes, in anderen Worten: ein todlangweiliges Leben zu führen. Emilia bliebe somit in der Herrschaftssphäre des Patriarchen, ihre "Unschuld" wäre garantiert – und dadurch auch die Wahrung eines zentralen bürgerlichen Wertes, der die symbolische Ordnung des Adels moralisch deklassiert.

Um diesen Wert nun wird der Kampf ausgefochten. Denn der Prinz begehrt Emilia über alle Maßen. Um sie zu bekommen, lässt er ihren Verlobten aus dem Weg räumen, entführt sie auf sein Lustschloss und setzt alle Hebel in Bewegung, sie langfristig dem Umfeld ihrer Familie zu entreißen. Für Odoardo sind diese Taten der letzte, schlagende Beweis für die Verrohung der adeligen Klasse, deren Willkür vor nichts und niemandem haltmacht. Er nimmt den Kampf gegen den Prinzen auf. Als er ihn zu verlieren droht, wählt er einen letzten, radikalen Ausweg, und tötet seine Tochter – groteskerweise auf ihren eigenen Wunsch hin.

Aus Sicht des bürgerlichen Wertekanons hat Odoardo gesiegt, die Unschuld der Tochter ist gerettet, der Prinz seiner Vergehen überführt. Doch es ist auffällig, dass Lessing an diesem höchsten Punkt der Katastrophe auf verschiedene christliche und mythologische Bezüge zurückgreifen muss, um Emilias Tod zu legitimieren: "Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige", und später: "Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum Zweiten das Leben gab" – eine Anspielung auf den Virginia-Mythos, der uns durch Livius überliefert ist. Doch unterläuft dieser Legitimationsversuch radikal ihren eigenen aufklärerischen Impetus: Die "Rechtschaffenheit" oder "Tugend" der Galottis – d.h. jenes Erbe aus der antiken Moralphilosophie, das, christlich gewendet, die Emanzipation des Bürgertums über den Adel garantieren soll – entlarvt sich in ihrer bösartigsten Fratze als Tugendrigorismus, der den freiheitlichen Werten der Aufklärung gleichgültig gegenüber steht. Dieser Rigorismus ist bereit, über Leichen zu gehen, auch über die der eigenen Tochter.

Der zentrale Wert der Aufklärung ist die Freiheit. Sie ist Emilia Galotti durch ihre Familie in vieler Hinsicht versagt. So bedarf es einiger Anstrengung der Mutter, Claudia Galotti, die Tochter in der Stadt zu erziehen – sehr zum Missmut des Vaters, der um das verführerische Potenzial des Stadtlebens weiß: Die Verheißungen der Stadt gefährden das "Idyll", das der Vater seiner Tochter zugedacht hat. Doch ist Freiheit ein zwiespältiges Konstrukt. Was sich als "freie Entscheidung" tarnt, muss noch längst keine sein; Emilia bringt es selbst auf den Punkt: "Verführung ist die wahre Gewalt". Verführung tarnt die Inbesitznahme einer Person als deren freie Entscheidung. Sie macht das Opfer wehrlos, da sie ihre eigene Gewalttätigkeit nicht zugibt und dadurch auch keinen Widerstand hervorruft. Wie aber kann eine freie Entscheidung von einer Verführung unterschieden werden? Wie "frei" handelt Emilia, wenn sie dem Prinzen in sein Kabinett folgt und damit de facto ihrem bisherigen Lebenskonzept entsagt?

Freiheit ist kein absoluter Wert, der bestimmten Handlungen "innewohnt" oder auch nicht. Vielmehr ist sie eine Art Orientierungssystem für Handlungen, das im Dschungel der praktischen Zwänge und Notwendigkeiten erkundet werden muss. Um Freiheit muss gerungen werden, sie bedeutet einen bewussten Umgang mit den konkreten Unfreiheiten des Lebens. Dadurch ist die Erfahrung von Freiheit fundamental an Selbsterkenntnis gebunden. Diese Erfahrung bleibt Emilia grundlegend verwehrt. So wächst in der jungen Frau ein Freiheitsdrang, der keinen Abrieb gefunden hat, der sich daher nicht konkret äußern kann. Das ist der Grund, warum Emilia die Avancen des Prinzen so gründlich fehldeutet: Denn dieser scheint ihren Freiheitsdrang maximal zu verkörpern, er ist geradezu der Inbegriff dessen, was sich Emilia unter einem "freien" (d.h. in ihrem naiven Verständnis: ungebundenen) Leben versteht. Die absolute Freiheit des absolutistischen Prinzen, der keine Verantwortung kennt, der sich in eskapistischer Romantik entlädt, der scheinbar kein Morgen hat, stellt für Emilia die größte Aussicht ihres Lebens dar, aus ihrem öden Dasein zu entfliehen.

Doch es gibt einen Morgen, und der Kater ist umso härter. Die Projektion einer absoluten Freiheit stellt sich als Luftschloss heraus. Denn natürlich gibt es keine Zukunft für den Prinzen und Emilia. Für ihn ist diese Tatsache qua seiner Position irrelevant, für sie kann sie es jedoch nicht sein, denn im rigiden Gesellschaftssystem ihrer Zeit bleibt ihr Schicksal gänzlich an das Milieu gebunden, dem sie entstammt. Ihre komplette Existenz wird durch diesen einen "Fehltritt" ruiniert. Das weiß sie, und deshalb stimmt sie der Auslöschung ihrer Existenz, die eh keine Zukunft kennt, zu.

Anders als bei Livius in der Virginia-Episode führt Emilias Tod zu nichts. Er ist kein Signum einer politischen Revolution, er hat keine symbolische Funktion oder gibt eine politische Ordnung vor. Genauso wenig ist ihr Tod als "letzter Akt der Freiheit" im Sinne Sartres zu verstehen. Emilia hatte nie die Chance, ein Gespür für Freiheit zu entwickeln. Am Ende stehen die Männer, die Emilias Tod angerichtet haben, ratlos herum, das Stück endet kläglich in gegenseitiger Schuldzuweisung. Bei Lessing besitzt die republikanische Allegorie des Jungfrauenopfers keinerlei sinnstiftende Funktion mehr. Jetzt liegt da einfach ein toter Körper und verweist auf die Machtlosigkeit derer, denen die Gesellschaft die Zügel in die Hand gegeben hat. Die antagonistischen Macht- und Begehrensansprüche sind auf eine Weise eskaliert, die jede symbolische Ordnung sprengt. Daher ist Emilias Sterben – heute wie schon zu Lessings Lebzeiten – für die Rezeption kaum bis gar nicht zu ertragen.

Emilia Galotti ist kein Fanal der Aufklärung. Lessing gesteht keiner seiner Figuren Möglichkeit zu einem freiheitlichen Handeln zu, das Grundlage einer aufgeklärten politischen Ordnung sein könnte. Vielmehr erklärt er politische Ordnung selbst zu einem Schauplatz, der freiheitliche Bestrebungen verunmöglicht. Sämtliche Macht- und Begehrensansprüche stehen bei Lessing jedem freiheitlichen Impetus diametral entgegen – eine Erkenntnis, die Emilia verwehrt bleibt, was sie zu dem einen, tragischen Missverständnis verführt: die absolute Handlungsmacht des Prinzen mit freier Gestaltungsmacht zu verwechseln. Emilias Tod erkauft keinen höheren Sinn. Am Boden zertrümmert liegt die Idee von politischer Ordnung.