HIKIKOMORI

Prosa

Siehe, ein Schiff erhebt sich, bricht aus den Tiefen des Meeres hervor, dort draußen nah der Stadt, wo die Sonne aufsteigt und der Regen fällt. Siehe, es bäumt sich in die Höhe, wie ein Ungeheuer, das Blut und Beute riecht. Jetzt steht es auf dem Wasser, schief und fest, als zögen es unsichtbare Seile in den Himmel hinein, und im Wasser ist nur noch das Heck. Dann, langsam, beugt sich das Schiff nach vorne, der Bug fällt hinab, doch ganz sanft; er gleitet zurück auf die Wasseroberfläche, die unsichtbaren Seile lassen nach, und siehe, da liegt das Schiff auf dem Wasser, so, dass es schwimmen kann ohne Seil. Schon fährt es los, fährt mitten in die Stadt hinein, gleitet in den Hafenbecken, wo kein anderes Schiff mehr liegt. Es dreht sich, wankt, ragt empor, und siehe, schon ist es angelandet, genau dort, wo SIE ist. Sie. Sie lehnt an der Kaimauer, den Blick fest auf das Schiff mit den drei Masten gerichtet. Da muss eine große Mannschaft sein, mit Zähnen und Waffen bewehrt, doch da ist keine Angst in ihr. Sie schaut sich um. Niemand zu sehen. Die Kais sind leer, das Schiff auch, wo ist die Mannschaft? Langsam nähert sie sich dem Schiff. Da wird eine Klappe ausgefahren, und ein Steg windet sich an Land. Sie sind nicht gekommen, um ihr ein Weh zu tun, die Mannen, sie wollen nicht morden und brandschatzen und vergewaltigen. Sie bleiben schüchtern unter Deck versteckt. Sie werden ihr nichts tun. Entschlossen geht sie an Bord. Treibt den Nebel vor sich her, der sich unter ihren Füßen bäumt, sie tritt ans Steuerrad, los die Leinen, und siehe! Wie von unsichtbarer Hand geleitet treibt das Schiff die Stadt hinaus, rasch dem Horizont entgegen, auf Deck nur sie, keine Mannschaft, kein Mensch.

Sie kommen als Rotte. Mit schweren Stiefeln und schnaubend und gewichtig stampfen sie die Stufen hinauf, die Ordnung wiederherzustellen, denn die wurde gestört. Die Nachbarin hat sich beschwert, hat einen Hilferuf getan, jetzt muss doch endlich etwas geschehen! Kommen Sie bitte, schnell! Da rast die Rotte los, mit Sirenen und Blaulicht und kreischendem Tatütata, rast über alle Ampeln hinweg. Das darf sie, die Rotte, die unser aller Recht ist und Hilfe in der Not. Zehn Minuten später ist sie da. Hält direkt vor der Tür, ein Wagen mit amtlichen Kennzeichen, so schnell! So schnell ist sie ist gekommen, die Rotte, aber klar, sie weiß ja, wo die Delinquentin wohnt, denn die Delinquentin ist nun wahrlich keine Unbekannte! Nein, im Gegenteil, sie hat auf sich aufmerksam gemacht, hat das Auge des Rechts auf sich gelenkt. Die Rotte ist das Recht, und das Recht ist gut. Aber das Recht, die Rotte, hat so viel zu tun! Da kann man nicht noch Rücksicht nehmen auf die Einzelheiten, die ach so besonders sind, vor allem die psychologischen, denn man hat durchaus eine Beraterin konsultiert für den Fall! Die Wache ist modern aufgestellt; niemand kann sagen: Preußen anno dazumal! Nein, wir kümmern uns um unseren Bürger und auch manchmal um die Bürgerin und manchmal ist dann halt auch Schluss. Jetzt ist Schluss. Jetzt ist zum dritten Mal der Anruf eingegangen von der Nachbarin. Zum dritten Mal, und die Woche ist noch nicht einmal vorbei! Schluss! Man hat schließlich noch mehr zu tun. Dort, im Norden der Stadt, da sieht es noch ganz anders aus, da regieren die Clans und die Migranten und unterminieren die Festen, die Festen der Gesellschaft, die Grundfesten, diese tiefe innere Sicherheit, was uns recht ist und was nicht. Dort im Norden muss die Rotte sein, die Festen zu bewachen und bewahren. Stattdessen ist sie hier, die Rotte, aber das ist eine andere Gegend, eine bessere, und hat nicht auch vorhin jemand gesagt, das Mädel kommt aus gutem Hause? Na also! Die Störung ist doch sein Privileg! Hat alles, was es zum Leben braucht, das Mädel, nur Sinn, nein, Sinn hat es keinen, und dann sucht sich das Gehirn halt andere Bahnen, ein neues Betätigungsfeld, das es kontrollieren kann und belegen mit Sinn. Nämlich die Störung. So oder so ähnlich hat die Psychologin es erklärt, oder war das ein ganz anderer Fall? Die Rotte weiß es nicht mehr genau, aber die Rotte ist genervt, so genervt, dass sie sich zusammengerottet hat, um den Schabernack auszutreiben ein für alle Mal. Stopp!, hat die Psychologin gesagt, der Fall ist delikat, man stehe ja auch im Kontakt zur Mutter. Schon lange stehe man im Kontakt zur Mutter, denn, wie gesagt, neu ist dieser Fall nun wahrlich nicht. Bedenkt die Mutter! Die Mutter ist wichtig. Die Mutter ist da, obwohl sie weg ist. Viele Eltern sind da, obwohl sie weg sind, das ist bei der Rotte nicht anders. Aber diese Mutter ist anders weg als andere Mütter, obwohl sie ja da ist. Gut, die Psychologin ist doch auch eine Frau, womöglich auch eine Mutter, soll sie doch mitkommen und das Mädel trösten. Das kann sie nicht, sie ist so überarbeitet, die Psychologin, sie hat doch einen Kliententermin. Eine andere Familie, die auch Probleme hat mit sich. Aber die Mutter, schlägt die Psychologin vor, die Mutter kann doch mitkommen. Die Mutter ist schließlich die Mutter, und sie, die Psychologin, ist es nicht. Die Mutter wird es schon am besten wissen, hat die nicht sogar studiert? Ich erinnere mich nicht.