Winterreise

Ewig dreht sie ihre Leier. Sie, das ist die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Autorin zahlreicher Prosa- und Theatertexte. Theatertexte allerdings, die keine "Stücke" sind im herkömmlichen Sinn. Es gibt kein Personenverzeichnis und keine Figurenrede, wie wir sie kennen. Keine dramatische Handlung und keinen Plot. Keine Story. Stattdessen: Lange, assoziative Fließtexte, "Textflächen“, wie es die Theater- und Literaturwissenschaft nennt. Sie kreisen um ein bestimmtes Thema, ohne es konkret zu benennen, um unvermittelt zum nächsten zu springen, und schnell wieder zurück. War nicht ernst gemeint! Die Deutschen und die Duschen, die Fichten und die Fluchten und die Juden. Schöne Berglandschaft, Österreich! Jelineks Stücke erzählen von der Schuld des zweiten Weltkriegs ("Rechnitz"), aus der Welt des Finanzkapitalismus' ("Die Kontrakte des Kaufmanns"), über Bildung und Bildungsbürgertum ("Wolkenheim"), über Krieg und Terror ("Bambiland", "Wut"), von Sport und Faschismus ("Sportstück") und vielen weiteren Themen. Jelinek schreibt und schreibt, lässt nicht ab von der Anklage, die sie an unsere Welt richtet. Ihre Sprache ist verätzt, voller böser Kalauer, geschmacklos und poetisch zugleich. Sie hakt sich ein in konkreten Fällen aus unserer Gegenwart und treibt sie weiter, ins Abstrakte, Geschichtliche.

In der "Winterreise", einem ihrer persönlichsten Texte, begleiten wir ein "Ich" durch acht Kapitel. Dieses "Ich" wird an einigen Stellen zu einem "Wir" werden, einem ziemlich unangenehmen, österreichischen "Wir". An einer Stelle wird es gar Jelineks eigener Vater werden, von Frau und Tochter abgeschoben in die psychiatrische Klinik, in der Demenz versunken. Und am Ende wird es dezidiert Jelinek selbst sein, die alternde Schriftstellerin. Dazwischen: Vielleicht sie selbst, vielleicht auch jede*r andere. In jedem Fall: Ein Wanderer auf einer Winterreise, auf der Reise durch ein Leben, das von Verlust, Einsamkeit, Trauer und Todessehnsucht geprägt ist. 

Die Premiere der "Winterreise" von Elfriede Jelinek am Grand Théâtre de la ville de Luxembourg ist für Mitte/Ende November 2024 geplant. Eine Rechercheresidenz im November 2022, ebenfalls in Luxemburg, legte den konzeptionellen Grundstein für den Abend, der sich zwischen Schauspiel, Performance und Neuer Musik bewegen wird.